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Wulf Wäntig: Grenzerfahrungen. Böhmische Exulanten im 17. Jahrhundert, Konstanz 2007
Die Studie führt ihre Leser ins Königreich Böhmen des 17. Jahrhunderts.
Inmitten der Verwicklungen aus Politik, Wirtschaft und Religion, die sich nicht zuletzt im Dreißigjährigen Krieg entluden,
zwang eine rigoros angelegte Rekatholisierungspolitik eine große Zahl von Protestanten, Böhmen zu verlassen und sich in evangelischen
Ländern Mitteleuropas, vor allem in Sachsen und der Oberlausitz, niederzulassen.
Die Arbeit untersucht diese Migrationsbewegungen auf mehreren Ebenen und verfolgt den Zusammenhang zwischen großer Politik und Alltagsleben,
sowohl was die Umsetzung der zentral beschlossenen Maßnahmen der „Gegenreformation” vor Ort angeht
als auch daraufhin, welchen Einfluss umgekehrt die Eigenheiten des Lebens fern der Machtzentren – und das heißt vor allem, an der Landesgrenze zu Sachsen –
auf die Weichenstellungen in Prag und Wien nahmen.
Die Erfahrungen des Lebens an und mit der Grenze mischten sich mit den Grenzerfahrungen, die der erzwungene Konfessionswechsel
und seine gewaltsamen Begleiterscheinungen in der Wahrnehmung des Einzelnen auslösten. Die Reaktionen der Betroffenen wichen
infolgedessen von den Zielsetzungen und Erwartungen der Rekatholisierungskommissionen in einem Maße ab, das nicht nur permanente
Neuorganisation und Strategiewechsel nach sich zog, sondern auch – im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren – die Anlage und Bewertung
des gesamten Projekts nachhaltig beeinflusste.
Im Ergebnis erweist sich die Geschichte der Frühen Neuzeit als weniger von allein strukturellen Zusammenhängen zwischen Politik, Gesellschaft und
Wirtschaft vorgegeben als vielmehr von den Deutungszusammenhängen beeinflusst, in deren Rahmen Einzelne und lokale wie übergreifende Gesellschaften
diese Bereiche als Bestandteile der eigenen Lebenswelt anordneten. Religion zeigt sich dabei als gleichberechtigtes, vielfach gewichtiges,
nicht jedoch grundsätzlich dominierendes Moment von Weltwahrnehmung und Handeln.
Das Buch ist im Juli 2007 bei → UVK Konstanz
erschienen (ISBN 978-3-89669-612-0, 664 Seiten, € 59,00). Der Verlag stellt auf seinen Seiten eine → Leseprobe aus der Einleitung und
das → Inhaltsverzeichnis bereit.
(aus dem Klappentext)
Wie Glaubensflüchtlinge im Allgemeinen gelten auch die Protestanten, die im 17. Jahrhundert das rekatholisierte Königreich Böhmen verließen, als Kronzeugen für den Charakter der Frühen Neuzeit als konfessionelles Zeitalter. Als Zufluchtsuchende in Sachsen – dem Kernland der lutherischen Reformation – scheinen sie unmittelbar zu belegen, dass die Religion über Faktoren wie Heimat, Besitz und lebensweltliche Bindung dominierte.
In einer Synthese aus Mikro- und Makrogeschichte unternimmt es Wulf Wäntig, den Zusammenhang von Rekatholisierung, Alltag und Migration in neuem Licht erscheinen zu lassen. Die überwiegende Mehrzahl der böhmischen Exulanten lebte im Grenzraum zwischen beiden Ländern. Ihr Umgang mit der Herausforderung durch die Rekatholisierung, mit obrigkeitlicher Gewalt wie auch mit alltäglicher Mobilität war vom Leben mit der Grenze geprägt. Dieses folgte anderen Regeln als denen des jeweiligen Kernlandes. Als Folge stellt sich auch die Geschichte ihrer Übersiedlung landläufigen Interpretationen diametral entgegen, nach denen in dieser Auswanderung eine Spielart gängiger Migrationsmuster ihrer Zeit zu sehen wäre. Damit nicht genug: Zuletzt erweisen sich sowohl die Ausgestaltung des zentralen Rekatholisierungsprojektes für Böhmen als auch die Entstehung einer generellen Aufnahmegenehmigung für Sachsen als unmittelbar von der Konfrontation mit der Eigengesetzlichkeit der Grenzgesellschaft beeinflusst.
Konfession, Migration und Grenze: Vom scheinbaren Rand der Historie aus eröffnen sich hier neue Perspektiven auf zentrale Fragen der Frühneuzeitgeschichte.
Wulf Wäntig studierte Geschichte, Politik und Romanistik in Göttingen und Besançon. 2004 promovierte er mit vorliegender Arbeit an der Technischen Universität Chemnitz. Er lebt als Historiker und Gymnasiallehrer in Hamburg.
Der mikrogeschichtliche Zugriff auf die
Lebens- und Migrationsgeschichte von Einzelnen und Gruppen von Migranten war nur möglich auf dem Weg über die Verknüpfung mehrerer Tausend Daten aus
Kirchen-, Rechnungs- und Grundbüchern, Flüchtlings- und Untertanenverzeichnissen. Die Dokumentation dieser Einzeldaten war nicht
Gegenstand der Arbeit, wohl aber sollten diejenigen Zwischenergebnisse nachvollziehbar bleiben, auf die sich zentrale Argumente der
Studie stützen. Was sich jedoch im Manuskript der Dissertation auf etwa einhundert Seiten erstreckt, hätte den Rahmen der Buchfassung
bei weitem gesprengt. Dieser Teil der Arbeit wird daher im Folgenden auf www.exulanten.de veröffentlicht;
im Buch wird an den entsprechenden Stellen auf diese Seiten verwiesen.
Dokumentiert sind zum einen die Quellen, auf die sich die Auswahl der im Buch behandelten Fallstudienregion stützt und auf deren Analyse
und Kontextualisierung die Untersuchung der Migration basiert: Exulantenverzeichnisse von Flüchtlingen aus der nordböhmischen
Grundherrschaft Rumburg (Rumburk), einerseits nach der chronologischen Abfolge der ausgewerteten Quellen (→ Verzeichnisse),
andererseits nach dem Vorkommen der im einzelnen identifizierten Flüchtlinge in diesen Quellen (→ Emigrantenliste).
Zum anderen sind aus diesen und vielfältigen Kontextquellen für einen Herkunftsort, das nordböhmische
Warnsdorf (Varnsdorf), Migrantenbiographien untersucht worden, deren Eckdaten (Fluchtverläufe, Leben vor und nach der Übersiedlung)
in insgesamt 93 Einträgen im Überblick zusammengestellt werden (→ Biographien).